Guiseppe war 93 Jahre, für sein Alter noch ziemlich gut in Schuss, wenn man das so sagen konnte. Er war flink wie ein Wiesel darin, Menschen, die er nicht mochte, mit Äpfeln aus seinem Garten zu bewerfen.
Ich sehe Guiseppe an, mir fallen sein weißer Bart, die Lesebrille, die er weiter unten auf der Nasenspitze trägt, ebenso die tiefen Falten und sein festgebrannter jähzorniger Blick auf und schon versinke ich in eine tiefe Trance. Was war nur aus ihm geworden? War er als junger Mann auch so?
Guiseppe war das mittlere Kind von drei. Er lebte mit seinen Eltern und Geschwistern nahe der Küste in Sizilien. Für ihn hieß es jeden Morgen, früh aufstehen, seinem Vater eine Stunde am Hof helfen, danach in die Schule gehen und sich mühsam durch die 8 Stunden, langweiligen Unterricht quälen. Schule und Bücher waren nichts für Guiseppe, die Autorität Lehrer erst recht nicht, weshalb sein Vater oft gezwungen war, dem Jungen Benehmen auf seine Art und Weise beizubringen. Sein Vater hatte es schon satt, immer wieder dem Direktor einen Besuch abstatten zu müssen, weil Guiseppe sich permanent dem Lehrer widersetzte.
Seit der Kindheit trug Guiseppe das Gefühl mit sich herum, immer das schwarze Schaf der Familie zu sein, es niemanden Recht machen zu können und nie genug zu sein. Mit dieser Einstellung und den immer größer werdenden Zorn wuchs er zwischen Gesetzeskonflikten, Vaters Gürtel und der Flucht in schlechte Gesellschaft. Als er ein junger Mann geworden war, verliebte er sich in eine junge Frau, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Sie gefiel ihm sehr. Sie hatte eine schöne Figur, lange Haare, war ziemlich frech aber auch schüchtern. Es dauerte nicht lange, die beiden wurden ein Paar, heirateten und bekamen Kinder. Guiseppe bemühte sich fortlaufend seinem inneren Groll zu entfliehen, glücklich zu werden und seinem Leben endlich einen Sinn zu verleihen. Doch im Laufe seiner Ehe stellte sich heraus, dass Guiseppe`s innere Unzufriedenheit nicht zu stillen war. Sei es mit seiner eigenen Leistung, des beruflichen Erfolgs, der Finanzen oder bloß der Tatsache wie andere mit ihm umgingen und ihn behandelten. Jeden Tag fand er etwas zu meckern und war griesgrämig, stritt auch deswegen oft mit seiner Frau und verließ immer wütend oder deprimiert das Haus. Er hatte sich immer ausgegrenzt, war alleine, hatte keine Freunde, nur viele Bekannte, mit denen er auch immer wieder zankte, weil er einfach keine anderen Menschen mochte. Ebenso wenig mochte er andere Sitten und Kulturen. Auch hatte er keine Skrupel jemanden, wie aus dem Nichts, die Faust ins Gesicht zu schlagen, wenn er sich von ihm beleidigt fühlte. Jahre vergingen, die Familie litt sehr unter dem frustrierten und aggressiven Verhalten von Guiseppe, der immer nur die Fehler im Außen suchte. Immerzu beschwerte er sich darüber, am schwersten zu arbeiten, von niemanden gesehen zu werden, keinen Respekt oder Wertschätzung zu erhalten.
Er stand früh morgens auf, ging zur Arbeit und murmelte immer etwas vor sich her, wenn er die Straße entlang ging. Alle kannten den griesgrämigen Guiseppe, warm ist niemand mit ihm geworden. Sie lernten ihn einfach zu akzeptierten.
Irgendwann war es der Familie zu viel geworden, die Frau und die Kinder verließen ihn, weil sie dieses ewige Gejammere nicht mehr ertrugen, jedes Mal projizierte Guiseppe seine inneren Wunden auf die Familie. Irgendwann war es für seine Familie nicht mehr tragbar und sie gingen fort, schließen die Tür hinter sich und kamen nie wieder.
Das war nun 51 Jahre her. Er war so stur, dass er sich nicht mal um den Kontakt der Kinder bemüht hatte. Nicht die leiseste Ahnung ob er in der Zwischenzeit vielleicht Großvater oder gar Ur-Großvater wurde, nein das war ihm völlig egal. Seine Kinder hatten sich bei ihm zu melden und nicht umgekehrt.
Ein vorbeilaufendes Kind reißt mich aus meiner Trancereise wieder raus und ich sehe Guiseppe wie er wie der Blitz von seiner Holzbank aufsteht, die Zeitung noch in der Hand haltend, nach einem Apfel greift und dem vorbeilaufenden Jungen einen Apfel nachwirft und dabei laut schreit: „Verschwinde aus meiner Hörweite du verdammter Bengel, sonst leg ich dich das nächste Mal übers Knie!“
Während ich so Guiseppe beobachte denk ich mir, war es das wert?
War es das wert, auf seine Wirklichkeit zu beharren und sich sein Leben lang zu weigern einen anderen Blickwinkel einzunehmen oder zur Abwechslung an sich selber zu arbeiten anstatt das Außen permanent zu korrigieren versuchen?
War es das wert, die Liebe seines Lebens gehen zu lassen? Den Kontakt zu den Kindern abzubrechen und nicht mehr an ihrem Leben teilzunehmen oder die Kinder an seinem Leben teilnehmen zu lassen?
War es das wert, gute Freunde gemieden zu haben, weil er in jedem einen Verräter sah und Angst hatte in irgendeiner Art und Weise über den Tisch gezogen zu werden?
Die Wirklichkeit über Guiseppes Kindheit war, dass der Vater so viel arbeiten musste und das Geld kaum für die Familie reichte, er seinen kleinen Guiseppe am meisten von den drei Kindern liebte, es ihm aber nicht zeigen konnte, weil er selber durchtränkt von Glaubenssätzen war. Guiseppes Vater wusste sich in den Jahren nicht mehr zu helfen, wie er sein Kind auf die richtige Bahn zurückbringen sollte, er war so stur und uneinsichtig gewesen. Ganz gleich wie sehr sein Vater mit ihm zu reden versuchte, es endete immer in Vorwurf und bösem Streit, bis Guiseppe beschloss nie wieder sein Elternhaus zu betreten.
Wir alle nehmen unsere Themen mit. Wir sind voll von Glaubensmustern, projizieren unsere Themen auf andere und fühlen uns schnell gekränkt, wird ein Triggerpunkt aktiviert. Sogleich beschießen wir unser Gegenüber mit Vorwürfen und hässlichen Beschimpfungen.
Und wieder frage ich, war es das wert?
Niemand sah sein Riesengroßes Herz und all die Liebe die er zu bieten hatte. Niemand sah je sein wundervolles Lächeln. Niemand sah woran er sich täglich erfreute, wofür er kämpfte und wofür er im Leben stand, wen er verteidigte und dass er jeden Tag heimlich einem Obdachlosen ein Stück Brot, Paprika und Speck schenkte, weil dieser nichts zu essen hatte.
Irgendwann in seiner frühen Kindheit, hat Guiseppe irgendjemandem abgekauft, er sei nichts Wert und würde es nie zu etwas bringen. Diese innere Haltung konditionierte er auch weiterhin sein Leben lang auch ziemlich erfolgreich.
Guiseppe lebte 97 frustrierte Jahre
Zu seiner Beisetzung war außer dem Pfarrer niemand gekommen.